Noch bis vor nicht langer Zeit war in unserer Gesellschaft ein Lebenslauf in folgende Abschnitte aufgeteilt und klar geregelt:
1. Kindheit – die Zeit des Entdeckens
2. Jugend – die Phase der Selbstfindung und die Suche nach dem Platz in der Gesellschaft
3. Berufseinstieg – Erwerb der professionellen Lebensgrundlage, berufliche Positionierung
4. Laufbahn/Karriere – Versorgung der Familie und eigene Absicherung im Alter
5. Pension – der ruhige Lebensabend, Geniessen der Enkelkinder und Hobbys
Heute allerdings hat bei über 60-Jährigen ein eindeutiger Identifikationsverlust stattgefunden. Die Diskrepanz zwischen dem aus der Vergangenheit überlieferten Bild der 60-Jährigen und der persönlichen Erwartungshaltung an die eigene zukünftige Existenz als Pensionärin resp. Pensionär ist sehr gross.
Wer bin ich mit 60+?
Ab dem 60. Geburtstag liegen spezielle Angebote für ältere Kunden in der Post, z.B. erhält man per sofort reduzierte Kinotickets, verbunden mit Kaffee und Kuchen – selbstverständlich für den Nachmittag, da eine Abendveranstaltung für Über-60-Jährige zu spät ist. Die Ferienprospekte präsentieren nicht mehr Anregungen für Erlebnisferien, sondern enthalten Angebote für Personen mit Gelenkschmerzen. Aus dem Bekanntenkreis wird man gefragt, ab wann man die Enkelkinder hütet, damit deren Eltern wieder in Ruhe arbeiten können. Dies und vieles mehr passt zum bisherigen Bild der Rentnerinnen und Rentner, an dem unsere Gesellschaft noch immer an festhält.
Dem gegenüber stehen in der Realität aber Pensionärinnen und Pensionäre, die ihre Enkelkinder wohl lieben und diese gerne ab und an am Wochenende zu sich nehmen, die jedoch nicht bereit sind, ihr Leben nochmals komplette den Bedürfnissen der Kinder der Kinder anzupassen. Mit anderen Worten, sie haben selber noch eine grosse Erwartungshaltung gegenüber dem letzten Lebensabschnitt.
Zudem gibt es immer mehr Über-60-Jährige, die noch keinen Gedanken auf den Ruhestand verwenden wollen. Sie wollen länger arbeiten, weil sie den Austausch mit jungen Menschen schätzen und weil sie ihre Erfahrungen weitergeben möchten. Es sind Fach- und Führungskräfte, die bereit sind, sich neu zu positionieren, und die auch eine damit verbundene Veränderung in der hierarchischen Position und eine Lohneinbusse akzeptieren.
Auch der Weg in die Selbstständigkeit ist eine Option, die von Mitarbeitenden ab Alter 55 mit grossem Interesse ins Auge gefasst wird, die Beratung z.B. auf Mandatsbasis. Leider geschieht dies oft zu spät. Obwohl durchaus eine sinnvolle Möglichkeit, sich in zunehmendem Alter neu zu positionieren, wird sie dann meistens doch nicht realisiert.
Auch in der Wirtschaft zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem althergebrachten Bild der Silver Worker und der Realität – zu spüren ist eine grosse Unsicherheit, wie damit umgegangen werden soll. Der Prozess setzt bereits Jahre früher ein und müsste dann schon mit Sorgfalt betreut werden:
· Wie geht man mit Mitarbeitenden nach dem 50. Lebensjahr um, wenn man genau weiss, dass der aktuelle Arbeitsplatz für die kommenden Jahre nicht garantiert ist?
· Durch den Abgang älterer Mitarbeitenden geht Wissen und Erfahrung verloren. Wie lässt sich das verhindern resp. dieses wertvolle Gut für die Zukunft sichern?
· Wie bearbeitet man Unterlagen von Bewerberinnen und Bewerbern im Alter von 55+ und besonders von 60+?
Die Verantwortlichen haben schlichtweg noch zu wenig Erfahrung, wie sie mit dem Wandel im Personalbereich umgehen sollen. Früher war eine Stelle auf Führungsebene in den letzten Jahren vor der Pensionierung so gut wie sicher. Entsprechend kam es relativ selten vor, dass Bewerbungen von Kandidaten im Alter 60+ eingingen.
Und hier wartet bereits die nächste grosse Unsicherheit. Die Politik spricht es ganz klar aus: In wenigen Jahren wird es völlig normal sein, dass wir bis ins Alter von 70 Jahren arbeiten. Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden diese Mitarbeitenden zwischen 60 bis 70 Jahren aber nicht mehr in dem Umfeld arbeiten, das sie zuvor im Laufe ihres Berufslebens kennengelernt haben. Die Politik, so gibt sie es zu erkennen, sieht es allerdings nicht als ihre Aufgabe an, hier etwas zu ändern – es liegt in der Verantwortung der Mitarbeitenden selbst, die Zukunft zu gestalten.
Wo liegt die grösste Chance für die Silver Worker?
Wer es schafft, die Normen der Vergangenheit abzulegen, wer nicht an Titeln, Positionen und Privilegien festhält, kann sich tatsächlich unabhängig vom Alter neu positionieren. Wir haben einen starken KMU-Markt, der Wissen und Erfahrung braucht. Dies jedoch nicht immer zu 100%. So kann es durchaus ein Szenario sein. dass das Unternehmen, in dem ich all die Jahre tätig war, einer meiner neuen Kunden wird. Ein Arrangement auf Teilzeit- oder Mandatsbasis hat für beide Seiten Vorteile, da die starre Verbindlichkeit eines 100%-Einsatzes auf unbestimmte Zeit wegfällt. Oft scheuen Arbeitgeber vielmehr diese Verpflichtung und weniger die Kosten oder das Alter der Silver Workers.
Zudem kann Wissen und Erfahrung auch in Projekte eingesetzt werden, bei denen es nicht primär um Verdienstmöglichkeiten geht. Oft suchen Menschen jenseits der Lebensmitte oder im Pensionsalter Ziele und Visionen, bei denen ein Sinn im Zentrum steht. Dafür zu arbeiten kann Erfüllung bedeuten.
Worin liegt die grösste Herausforderung für die Silver Worker?
Wenn wir in Zukunft unabhängig von gesetzlichen Altersvorgaben so lange arbeiten wollen, wie wir uns das wünschen, müssen wir uns frühzeitig mit der Planung befassen. Spätestens mit 55 Jahren braucht es eine persönliche Standortbestimmung mit klarer Fokussierung, welche Optionen in Frage kommen. Es darf kein Tabu-Thema mehr sein. Wir dürfen diesen Entscheid nicht anderen überlassen und müssen darum aktiv die Initiative ergreifen und darüber sprechen. Wir müssen entscheiden, wann der Weg der Berufskarriere, den wir bis zu einem bestimmten Punkt gegangen sind, zu Ende ist. Wir haben heute Perspektiven, die es früher für diese Altersgruppe noch nicht gegeben hat.
Leicht ist dieser Schritt in eine neue Zukunft allerdings (noch) nicht. Es braucht sowohl bei den Unternehmen wie auch in der Gesellschaft ein grosses Umdenken.